Josef Wißkirchen präsentierte im Ratssaal sein neues Buch
Was hat man in den 1960er Jahren in der Schule über die Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere die Verfolgung und Vernichtung der Juden, gelernt? Zumeist eher nichts, wie eine Diskussionsteilnehmerin bei der Vorstellung des neuen Buchs von Josef Wißkirchen mit dem Titel „Jüdische Familien kämpfen ums Überleben“ anmerkte. Dessen öffentliche Präsentation im Ratssaal erfolgte jetzt übrigens nur wenige Tage nach Erscheinen der englischsprachigen Übersetzung in den USA.
Dass der Geschichtsunterricht in den Schulen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 vielfach gerade mal bis zur Weimarer Republik und deren Ende reichte, war jedenfalls bis vor gut 40 Jahren eher die Regel als die Ausnahme.
Kathi Schmitz, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Heimat + Historie – NE-BU 962, brachte es so auf den Punkt: „Ich kann mich nicht entsinnen, dass in der Schule darüber gesprochen wurde.“
Seither hat sich manches geändert, wobei insbesondere die Erforschung der lokalen Geschichte ganz neue Dimensionen erreicht hat, nachdem die jahrzehntelange Verdrängung des nach wie vor für manche unliebsamen Themas aufgebrochen werden konnte.
Der Mythos, dass niemand so richtig etwas gewusst habe, kann jedenfalls als längst überwunden gelten: Dass vielfach Nachbarn, Freunde und selbst nahe Verwandte auf die eine oder andere Weise an der Verfolgung von Juden beteiligt waren, steht längst außer Zweifel, wie Wißkirchen gern durch einen Hinweis auf die Reichspogrom-nach vom 9. November 1938 illustriert, bei dem die Haupttäter – im Gegensatz zu einer lange gängigen „Erzählung“ aus Rommerskirchen selbst kamen.
„Wer in Rommerskirchen lebt, kann den Spuren der jüdischen Vergangenheit nicht entgehen“2, schreibt Josef Wißkirchen auf den Schlussseiten seines Buchs, die ein Plädoyer für die nicht nur schmerzliche, sondern auch heilende Wirkung der Erinnerung enthalten. „Sich der Vergangenheit stellen und ehrlich damit umzugehen“, ist für ihn die Voraussetzung dafür, „so etwas wie Versöhnung zu schaffen“.
Nicht zuletzt auf der Grundlage von über 200 erhalten gebliebenen Briefen schildert Josef Wißkirchen, eingehender als es die Quellenlage bisher zuließ, das (Flucht-)Schicksal der aus Rommerskirchen stammenden Familien Vosen und Kaufmann.
Ein faktischer Irrtum in seinem 2016 erschienenen Standardwerk „Verfolgte Nachbarn am Gillbach – Juden in Rommerskirchen“ gab den Anstoß für sein jetzt im Ratssaal der Gemeinde präsentiertes Buch, das denn auch weit mehr als ein bloßer Ergänzungsband ist.
War er mangels anderer Informationen davon ausgegangen, dass die beiden aus Rommerskirchen stammenden Schwestern Hilde und Margot Vosen womöglich von den Nazis ermordet worden seien, erfuhr Wißkirchen von der heute 95-jährigen Margot Vosen, wie beiden – auf unterschiedliche Weise – die Flucht in die USA gelungen war.
Margot Vosen selbst versah ihn mit handschriftliche Berichten und Fotos: „Seitdem empfinde ich es als eine Verpflichtung, ihre Lebensgeschichte und die ihrer Familie genauer aufzuzeichnen, als es mir bisher möglich war“, so Wißkirchen.
Neben der inzwischen 90-jährigen Marlene Straus (gebürtige Roesberger), die früher an der Giller Straße wohnte und im April 2019 erstmals wieder nach Rommerskirchen gekommen war, ist Margot Vosen-Haarburger, deren Elternhaus sich am Markt befand, die einzige noch lebende Jüdin aus Rommerskirchen.
In den Mittelpunkt seiner Schilderung hat Josef Wißkirchen nicht zuletzt die – von weiteren Schikanen begleitete – finanzielle Ausbeutung der zuvor schon entrechteten Juden gestellt, die eine Ausreise aus Nazi-Deutschland zunehmend schwieriger machten. Zugleich weiß er aber auch von „der beeindruckenden Solidarität und Menschlichkeit innerhalb der jüdischen Community“ zu berichten.
„Das Buch bereichert unser Wissen über die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens ganz erheblich“, Dr. Stephen Schröder, Leiter des Kreisarchivs, der ebenso an der Präsentation teilnahm wie Beate Pricking vom Kreisheimatbund und Woilfgang Hüttche von der Sparkasse Neuss.
Schröder betonte „den besonderen Wert der lokalen Forschung“ und machte kein Hehl aus seiner Hoffnung, dass Wißkirchen weitere Bücher folgen lasse.
Keinen Zweifel ließ der Autor daran, dass sein Buch nicht ausschließlich von der Geschichte handele, vielmehr solle es „grundsätzlich zum Nachdenken über das menschliche Miteinander im Hier und Jetzt“ anregen. Dass „Anstand und Menschlichkeit sich verstecken“, während „die Inhumanität ihr offenes Gesicht zeigt“, ist für Wißkirchen jeden-falls eine nicht auf den Zeitraum der Nazi-Herrschaft zu beschränkende Gefahr.
Ähnlich sieht es auch Bürgermeister Dr. Martin Mertens, der gleich eingangs davor warnte, dass es auch in der Bundesrepublik nach wie vor Kräfte gebe, „die die Axt an die Demokratie legen“, wie er mit Blick auf gewisse Strömungen der Corona-Leugner oder die Wahlergebnisse im Osten Deutschlands sagte, bei denen es „einem eiskalt den Rücken hinunter laufe“.